Donnerstag, 8. März 2012

Der Fall Auguste Deter


Am 25. November 1901 begegnete Alzheimer der Patientin, die ihn berühmt machen sollte: Auguste Deter. Ihr Ehemann brachte sie in die Anstalt, nachdem sie sich innerhalb eines Jahres stark verändert hatte. Sie war eifersüchtig geworden, konnte die einfachsten Sachen im Haushalt nicht mehr verrichten, versteckte Gegenstände, fühlte sich verfolgt und behelligte aufdringlich die Nachbarschaft. Das Krankenblatt von Auguste D. wurde 1996 im Archiv der psychiatrischen Klinik in Frankfurt wiedergefunden.
Alzheimer protokollierte - wie stets - die ersten Daten und Befunde.
 Er fragte:
„Wie heißen Sie?“
„Auguste.“
„Familienname?“
„Auguste.“
„Wie heißt ihr Mann?“ - Auguste Deter zögert, antwortet schließlich:
„Ich glaube... Auguste.“
„Ihr Mann?“
„Ach so.“
„Wie alt sind Sie?“
„51.“
„Wo wohnen Sie?“
„Ach, Sie waren doch schon bei uns.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ach, ich bin doch so verwirrt.“
„Wo sind Sie hier?“
„Hier und überall, hier und jetzt, Sie dürfen mir nichts übel nehmen.“
„Wo sind Sie hier?“
„Da werden wir noch wohnen.“
„Wo ist Ihr Bett?“
„Wo soll es sein?“
Zu Mittag isst Frau Auguste D. Schweinefleisch mit Blumenkohl.
„Was essen Sie?“
„Spinat.“ (Sie kaut das Fleisch)
„Was essen Sie jetzt?“
„Ich esse erst Kartoffeln und dann Meerretisch.“
„Schreiben Sie eine fünf.“
Sie schreibt: „Eine Frau“
„Schreiben Sie eine Acht.“
Sie schreibt: „Auguste“ (Beim Schreiben sagt sie wiederholt: Ich habe mich sozusagen verloren.)
Alzheimer stellte fest, dass die Patientin keine Orientierung über Zeit oder Aufenthaltsort hatte, sich kaum an Einzelheiten aus ihrem Leben erinnern konnte und oft Antworten gab, die in keinerlei Bezug zur Frage standen und auch sonst ohne Zusammenhang blieben. Augustes Stimmungen wechselten rasch zwischen Angst, Misstrauen, Ablehnung und Weinerlichkeit, man konnte sie nicht allein durch die Räumlichkeiten der Klinik gehen lassen, da sie dazu neigte, allen anderen Patienten ins Gesicht zu fassen, und dafür von diesen geschlagen wurde. Es war nicht das erste Mal, dass Alzheimer dem Bild von kompletter geistiger Verwirrung begegnete – bei früheren Fällen hatte er immer wieder ähnliche Befunde gehabt, diesen aber keine Bedeutung beigemessen, weil die Patienten oft annähernd 70 Jahre und älter waren. Auguste Deter machte ihn neugierig, denn zum Zeitpunkt ihrer Einlieferung war sie erst 51 Jahre alt. Die nächsten Wochen waren geprägt von weiteren geduldigen Befragungen, die die schwere geistige Verwirrung offenkundig machten und die von Auguste wiederholt mit einem jammernden „ach Gott“ begleitet wurden. In einem Interview äußerte sie mehrfach: „Ich habe mich sozusagen selbst verloren“ – sie war sich ihrer Hilflosigkeit offensichtlich bewusst. Alzheimer gab dem Krankheitsbild einen Namen: „Die Krankheit des Vergessens“.
 Das Jahr 1902 brachte eine weitere Wende: Alzheimer ließ Frankfurt hinter sich und wurde an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg wissenschaftlicher Assistent bei Professor Emil Kraepelin, der ihn nach seiner Berufung 1904 auch nach München mitnahm.Gleichwohl hatte er Auguste Deter nicht vergessen. Regelmäßig erkundigte er sich in Frankfurt nach ihrem Gesundheitszustand und verhinderte ihre aus Kostengründen geplante Verlegung in eine andere Klinik, da er diese Patientin unbedingt noch einmal untersuchen wollte - nach ihrem Tod.Am 9. April des Jahres 1906 ereilte Alzheimer an seinem Arbeitsplatz in München ein plötzlicher Anruf aus Frankfurt: Auguste Deter war verstorben. Alzheimer ließ sich die Krankenakte und das Gehirn der Patientin zuschicken. Die Akte ergab, dass sich Auguste Deters Geisteszustand in den letzten Jahren massiv verschlechtert hatte. Todesursache war eine durch Dekubitus (Wundliegen) hervorgerufene Blutvergiftung. Die mikroskopische Untersuchung des Gehirns ergab flächenweise zu Grunde gegangene Nervenzellen und Eiweißablagerungen (so genannte Plaques) in der gesamten Hirnrinde. Am 3. November 1906 stellte Alzheimer auf einer Fachtagung in Tübingen das später nach ihm benannte Krankheitsbild als eigenständige Krankheit vor.

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